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31.08.2008, 18:25 #1Albiown
Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
Zentralbahnhof
1972
Günter Kunert
An einem sonnigen Morgen stößt ein Jemand innerhalb seiner Wohnung auf ein
amtliches Schreiben: es liegt auf dem Frühstückstisch neben der Tasse. Wie es dahin
kam, ist ungewiß. Kaum geöffnet, überfällt es den Lesenden mit einer Aufforderung:
Sie haben sich, befiehlt der amtliche Druck auf dem grauen, lappigen Papier, am
5. November des laufenden Jahres morgens acht Uhr in der Herrentoilette des
Zentralbahnhofes zwecks Ihrer Hinrichtung einzufinden. Für Sie ist Kabine 18
vorgesehen. Bei Nichtbefolgung dieser Aufforderung kann auf dem Wege der
verwaltungdienstlichen Verordnung eine Bestrafung angeordnet werden. Es empfiehlt
sich leichte Bekleidung, um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren.
Wenig später taucht der solchermaßen Betroffene verzagt bei seinen Freunden
auf. Getränke und Imbiß lehnt er ab, fordert hingegen dringlich Rat, erntet aber nur
ernstes und bedeutungsvolles Kopfschütteln. Ein einscheidender Hinweis, ein
Hilfsangebot bleibt aus. Heimlich atmet man wohl auf, wenn hinter dem nur noch
begrenzt Lebendigen die Tür wieder zufällt, und man fragt sich, ob es nicht schon zuviel
gewesen ist, sie ihm überhaupt zu öffnen. Lohnte es denn, wer weiß was alles auf sich
zu laden für einen Menschen, von dem in Zukunft so wenig zu erwarten ist?
Der nun selber begibt sich zu einem Rechtsanwalt, wo ihm vorgeschlagen wird,
eine Eingabe zu machen, den Termin (5. Nov.) aber auf jeden Fall einzuhalten, um
Repressalien auszuweichen. Herrentoilette und Zentralbahnhof höre sich doch ganz
erträglich und vernünftig an. Nichts werde so heiß gegessen wie gekocht. Hinrichtung
Wahrscheinlich ein Druckfehler. In Wirklichkeit sei "Einrichtung" gemeint. Warum nicht?
Durchaus denkbar findet es der Rechtsanwalt, daß man von seinem frisch gebackenen
Klienten verlage, er solle sich einrichten. Abwarten. Und vertrauen! Man muß Vertrauen
haben! Vertrauen ist das wichtigste.
Daheim wälzt sich der zur Herrentoilette Beorderte schlaflos über seine
durchfeuchteten Laken. Erfüllt von brennendem Neid lauscht er dem unbeschwerten
Summen einer Fliege. Die lebt! Die hat keine Sorgen! Was weiß die schon vom
Zentralbahnhof?! Man weiß ja selber nichts darüber... Mitten in der Nacht läutet er an
der Tür des Nachbarn. Durch das Guckloch glotzt ihn ein Auge an, kurzfristig,
ausdruckslos, bis der Klingelnde kapituliert und den Finger vom Klingelknopf löst.
Pünktlich um acht Uhr morgens betritt er am 5. Nov. den Zentralbahnhof,
fröstelnd in einem kurzärmeligen Sporthemd und einer Leinenhose, das leichteste, was
er an derartiger Bekleidung besitzt. Hier und da gähnt ein beschäftigungsloser
Gepäckträger. Der Boden wird gefegt und immerzu mit einer Flüssigkeit besprengt.
Durch die spiegelnde Leere der Herrentoilette hallt sein einsamer Schritt: Kabine
18 entdeckt er sofort. Er schiebt eine Münze ins Schließwerk der Tür, die aufschwingt,
und tritt ein. Wild zuckt in ihm die Gewißheit auf, daß gar nichts passieren wird. Gar
nichts! Man will ihn nur einrichten, weiter nichts! Gleich wird es vorüber sein, und er
kann wieder nach Hause gehen. Vertrauen! Vertrauen! Eine euphorische Stimmung
steigt ihm in die Kehle, lächelnd riegelt er das Schloß zu und setzt sich.
Eine Viertelstunde später kommen zwei Toilettenmänner herein, öffnen mit
einem Nachschlüssel Kabine 18 und ziehen den leichtbekleideten Leichnam heraus,
um ihn in die rotziegeligen Tiefen des Zentralbahnhofes zu schaffen, von dem jeder
wußte, daß ihn weder ein Zug jemals erreicht noch verlassen hatte, obwohl oft über
seinem Dach der Rauch angeblicher Lokomotiven hing.
Habe diese Geschichte wiederentdeckt und muss sagen, dass mir bis heute immer und immer wieder ein Schauer über den Rücken läuft, sobald ich sie lese. In vielen Oberstufen an Gymnasien wird sie auch gelehrt.
Was denkt ihr über sie?
In meinen Augen ist es eine der besten Kurzgeschichten, die die moderne Literatur (ab 1900) hervorgebracht hat.
mfG
Albiown
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31.08.2008, 18:46 #2mamasaker
AW: Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
ich muss ganz erlich sagen ich hab das nich ganz vertanden alles^^aber naja das muss ich warscheinlich auch noch nich was ich nur nich verstehe wer lehrt denn sowas und wo is da die lehre?
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01.09.2008, 15:01 #3Albiown
AW: Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
Moinsen,
die Geschichte wird oft an der Oberstufe der manchmal auch an der Uni als DIE Geschichte der zeitgenössischen Literatur herangenommen, die über den Holocaust schreibt.
mfG
Albiown
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02.09.2008, 20:08 #4mamasaker
AW: Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
glaubst du ernsthaft ich hab das verstanden oder was das an wen anders gerichtet???
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03.09.2008, 16:20 #5Albiown
AW: Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
Ährm, was willst du mir mit diesem Satz sagen? Sorry, verstehe dich nicht. Bitte versuch es doch mal mit einem ganzen Satz mit Satzzeichen und Groß- und Kleinschreibung.
Soll wirklich nicht überheblich klingen, bitte nicht so verstehen, aber ich habe ernsthafte Schwierigkeiten, deine Posts zu verstehen.
mfG
Albiown
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03.09.2008, 19:49 #6mamasaker
AW: Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
das haben die meisten (is aber warscheinlich auch meine schuld) aber ich habe keine lust auf satzzeichen und großund kleinschreibung (aber ich spame jetzt ja warscheinlich wider )
und sagen wollte ich die mit diesem staz eigentlich nur das ich die geschichte nach wie vor nich verstehe^^
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04.09.2008, 10:32 #7Raul Endymion
AW: Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
Da klingelt was.
Diese Geschichte ist mir auch damals während meiner Oberstufenzeit über den Weg gelaufen. Ist schon ein paar Jährchen her.
Habe auch gerade, nach erneutem durchlesen festgestellt, dass sie nichts von ihrer prägnanten Intensität verloren hat.
Der Fokus der Geschichte liegt ja auf der kalten und effizenten Bürokratie mit der die Hinrichtung geplant und durchgeführt wird. Auch die Ohnmacht der Hauptperson und die Gleichgültigkeit der Mitmenschen etwas gegen dieses "bürokratische Monstrum" zu tun. Die Person ergibt sich ja geradezu dem unausweichlichen Schicksal mit dem letzten Fünkchen Hoffnung, dass es vieleicht doch nicht so schlimm sein möge.
Die Parallele die hier zum totalitären faschistoiden Staat und dessen "sauberer und effizineter Entsorgung" von ungewünschten Elementen ist doch sehr gut zu erkennen.
Wirklich beeindruckend an der Geschichte ist ja der Umstand diese ganzen Parallelen so geschickt, in vergleichsweise so wenig Text unterzubringen.
Genauso wie es erschreckend ist wie viel kaltes Grauen in der Geschichte und in dem makabren Ende steckt.
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04.09.2008, 20:00 #8mamasaker
AW: Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
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04.09.2008, 22:07 #9Insight
AW: Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
Mal in Kurzform:
Es geht in der Geschichte um einen Juden im 3. Reich der hingerichtet werden soll.
Dieser sucht Hilfe und Rat bei Freunden und Anwalt, welche aber wissen um was es dabei geht, aber Angst haben ihrem Freund bzw Klient zu helfen.
Half man im 3. Reich einem Juden aus der Patsche, kam man schnell selbst ins Visier der Nazis.
Also reagieren sie nicht groß auf das Schreiben, der Anwalt redet ihm sogar Mut zu.
Die Hauptperson geht dann zu dem Bahnhof welcher in Wirklichkeit ein Konzentrationslager ist und dort auf die Toilette die wohl eher eine Gaskammer ist.
Die "rotziegeligen Tiefen" des Bahnhofes sind der Verbrennungsofen des Konzentrationslagers, von welchem auch der Qualm aufsteigt.
Ich hoffe, dass das so hinkommt.
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05.09.2008, 17:16 #10Albiown
AW: Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
Ja, das kommt in etwa so hin, aber so direkt ist es sicher nicht gemeint. Die Kälte des Vernichtungsapparats ist in diesem hochformalen Deutsch ebenso verwirklicht.
mfG
Albiown
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06.09.2008, 03:54 #11stdadr
AW: Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
Ich habe ein bisschen gebraucht bis ich es verstanden habe, aber ich halte es für eine sehr interessante, tiefgründige und intelligente Geschichte.
Ich finde solche "Gleichungen" (ich weiß gibts nur in der Bibel, aber ich hoffe ihr wisst was ich meine), wenn sie gut gelungen sind, immer sehr gut um das Thema noch ein bisschen besser zu verstehen.
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06.09.2008, 19:12 #12mamasaker
AW: Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
also nach der erklärung hab ichs auch verstanden das mit dem banhof und so ist also alles erh simbolisch gemeint oder?
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10.09.2008, 14:47 #13Adaephton
AW: Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
Hab diese Kurzgeschichte zum ersten mal gelesen und muss sagen am Anfang war ich ziemlich verwirrt erst dann hats nach einiger Zeit klick gemacht und ich habe den Sinn nach und nach begriffen. Muss sagen ist echt gut geschrieben diese Geschichte unglaublich wie passend sie Paralellen setzt.
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14.05.2013, 21:05 #14Unregistriert
AW: Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
Die Geschichte erfüllt eher die Merkmale einer Parabel, als die einer Kurzgeschichte. Damit ist ihre deutungshypothese derart vielfältig, das sich hier vieles hinein interpretieren lässt. Es kommt darauf an was ihr in dieser Geschichte seht, richtig und falsch gibt es hier nicht, wenn ihr es begründen könnt. Holocaust, Kadavergehorsam, entmenschlichter Staat, unbedingter erfüllungswille, lebensverachtende Verwaltungsstrukturen usw. sind nur einige von vielfältigen Möglichkeiten, einer Deutung. Parallelen lassen sich hier auch zur DDR, das kommunistische China, NS Deutschland, wilhelminisches Kaiserreich und/oder Diktatur im allgemeinen ziehen. Wobei sich aufgrund der Geschichte des Autors der Bezug zur DDR anbietet.
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15.05.2013, 15:03 #15Brutus
AW: Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
Also ich habe auch gleich eher an den Holocaust gedacht. Auf jeden Fall geht es um eine diktatorisches Regime.
Das kommunistische China der 60er und 70er Jahre kann ich darin allerdings nicht so richtig wiederfinden. Da herrschte doch keine so kalte und effiziente Bürokratie. Das war doch alles viel hitziger.
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05.01.2014, 19:13 #16Unregistriert
AW: Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
Diese Kurzgeschichte ist wirklich super, wir machen sie gerade durch in der Oberstufe.
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27.03.2017, 17:56 #17Unregistriert
Die Kurzgeschichte "Zentralbahnhof"
Diese Kurzgeschichte ist eine der besten die ich gelesen habe, haben sie vor ein paar Jahren in der Mittelstufe an meinem Gymnasium mal durch genommen. Ich denke, trotz der Interpretationsfreiheit, dass sie sich auf den Holocaust bezieht, vorallem durch die Nummer 18. Die 1 steht für A im Alphabet und die 8 für H, daher AH gleich Adolf Hitler.
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